02.06.1997
NATIONALSOZIALISMUS / Mühsame Spurensuche nach dem Gold aus jüdischem Besitz. Die Degussa AG und die schwierige Aufarbeitung der Vergangenheit.
Handelsblatt
Von  Britta Bode und Vardina Hilloo
Die Affäre um das Raubgold der Nazis und die Schweiz zeigt, daß im Bereich der Wirtschaftsgeschichte des Dritten Reiches noch hoher Aufklärungsbedarf besteht. Wie mühsam die Spurensuche über 50 Jahre nach Kriegsende ist, und wie schwer sich deutsche Unternehmen noch immer mit ihrer Vergangenheit tun, belegt eindrucksvoll das Beispiel der Degussa AG.
 "Wir waren Teil des Wirtschaftskreislaufes des Dritten Reichs." Mit dieser Feststellung reagierte der Generalbevollmächtigte der Degussa AG, Michael Jansen, auf die jüngsten Presseberichte, wonach die Degussa in der Zeit des Nationalsozialismus das sogenannte "Totengold" aus den Konzentrationslagern sowie enteignete und geraubte Edelmetalle aus  jüdischem Besitz eingeschmolzen haben soll.
Ein Teil des NS-Wirtschaftskreislaufes war die Degussa fürwahr. Nach dem Ende des  Krieges mußte sich das Unternehmen in mehreren Verfahren dafür verantworten, daß es die Herstellungrechte an Cyclon B, dem Gas, mit dem in den Konzentrationslagern Millionen Menschen umgebracht wurden, besaß. Als Mitteilhaber der Degesch, der Deutschen Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung, die Cyclon B produzierte, hat die Deutsche Gold- und Silberscheideanstalt (Degussa) von der Vernichtungspolitik der Nazis direkt profitiert. In den Nürnberger Prozessen z. B. wurde allerdings festgestellt, es sei nicht nachzuweisen, daß die Verantwortlichen von dem Verwendungszweck des Gases gewußt hatten. Die Diskussion um die Verantwortlichkeit, um das Wissen und Nichtwissen der Geschäftsleitung schien abgeschlossen. Mit der Erörterung der  Rolle der Degussa als Scheideanstalt für Edelmetalle wurde nunmehr ein neues Feld eröffnet.
Dabei mag die Aufregung um die jetzt neu vorgelegten Dokumente zunächst überraschen. Denn eigentlich kann niemand wirklich geglaubt haben, daß die Degussa als die größte deutsche Scheideanstalt nicht auch Gold und Silber aus jüdischem Besitz, nicht auch Zahngold und Schmuck der Opfer aus den Konzentrationslagern geschieden haben soll, wie es jetzt in einem Bericht des Ostdeutschen Rundfunks nach "geheimen amerikanischen Militärunterlagen" angedeutet wird. Im "Eizenstat-Bericht" der US-Regierung zum Thema Nazigold wird ein US-Dokument schon aus dem Jahr 1946 zitiert, wonach Edelmetalle aus Auschwitz und anderen Lagern von der SS an die Reichsbank geliefert wurden, die Teile davon an die Degussa zur Aufarbeitung weiterleitete. Dem Bericht zufolge konnte die Degussa im Rahmen der ihr zugewiesenen Kontingente Goldmengen für die industrielle Verwertung behalten, lieferte aber den Hauptteil an die Reichsbank zurück.  Diese schrieb die geschiedenen Edelmetallmengen einem Konto der SS gut.
Bereits 1946 war damit eigentlich klar, daß die Degussa auch Edelmetalle eingeschmolzen hatte, die aus Konzentrationslagern stammten. Dabei ist bislang nicht gesichert, ob die Degussa die Herkunft des Goldes und Silbers nachvollziehen konnte. Im Eizenstat-Bericht wird eine Aussage zitiert, wonach den Kisten zumindest bei der Anlieferung zur Reichsbank die Herkunft aus Auschwitz durchaus zu entnehmen war.
Klarer scheint die Situation bei den Gold- und Silberlieferungen aus dem Ghetto Lodz zu sein. Der Historiker Hersch Fischler, der bereits seit Oktober 1996 mit der Degussa in Kontakt steht, hat nach eigenem Bekunden im Stadtarchiv des ehemaligen jüdischen Ghettos Lodz Briefe gefunden, die belegen, daß die Degussa nicht nur Edelmetalle direkt aus dem Ghetto erhalten hat, sondern sie sich sogar aktiv darum bemüht habe. Fischler beruft sich auf Schreiben der Degussa an den Oberbürgermeister des damaligen Litzmannstadt. Danach reagierte die Degussa, Berlin, auf eine Anfrage vom 4. Oktober 1940, in dem sie dem Oberbürgermeister ein Angebot unterbreitete, für Feinsilber 35,50 Reichsmark pro Kilo und für Feingold 3,40 Reichsmark pro Gramm abzüglich Fracht- und Scheidekosten zu bezahlen. Wurden demnach in diesem Brief noch von "zur Ablieferung gekommenen" Edelmetallen gesprochen, wird in dem Folgebrief vom 31. Oktober 1940 ganz klar von "Gold- und Silberwaren aus jüdischem Besitz" geschrieben. Hier, wie in einem Brief vom 3. Dezember 1940, beklagte sich die Degussa, daß ihr Angebot bisher ohne Reaktion geblieben war. Und: "Sie dürfen überzeugt sein,  daß sich die Ausarbeitung bei uns in jeder Weise vorteilhaft für Sie gestalten würde, und es sollte uns freuen, von Ihnen nunmehr recht bald einen positiven Bescheid zu erhalten."
In einer von Fischler ebenfalls vorgelegten Abrechnung vom März 1941 wird der Erhalt von 1410 Kilogramm Bruchsilber bestätigt und dem Oberbürgermeister ein Haben-Saldo von 35 137,25 Reichsmark bescheinigt. Wenn sich die Dokumente als echt erweisen, wird damit bestätigt, was in ähnlicher Form bereits 1966 in einem Band des Münchner Instituts für Zeitgeschichte beschrieben wurde. Danach hat die Degussa allein im April 1943 "9 Kisten mit fast 1500 kg" Bruchsilber und -gold aus dem Ghetto Lodz erhalten.
Für die Degussa AG waren diese Lieferungen lange Zeit nicht "nachweisbar", wie die Leiterin des Firmenarchivs, Mechthild Wolf, betonte. Aus den erhalten gebliebenen Scheidebüchern aus Berlin, die bis zum Jahr 1945 vorliegen sollen, ließen sich danach derartige Liefermengen nicht bestätigen. Die Argumentation des Unternehmens lief bisher darauf hinaus, daß nicht dementiert werden könne, daß die Degussa Gold und Silber aus dem Ghetto Lodz geschieden hat, doch daß man es eben auch nicht bestätigen könne. Wenigstens der jüngste von Fischler vorgelegte Lieferschein scheint jetzt doch durch die Scheidgutbücher gedeckt. Eine Firmensprecherin erklärte gegenüber dem Handelsblatt, diese Lieferungen ließen sich nunmehr "rekonstruieren".
Von selbst verweist das Unternehmen zudem inzwischen auf Einträge in den Berliner Scheidgutbüchern, die Verweise wie "Jdsilber", "Jdgold" oder "Jd" enthalten. Bei diesem Gold und Silber handelt es sich nach Auskunft der Degussa um Edelmetalle, die ab 1939 von den jüdischen Bürgern konfisziert wurden. Das Gold und Silber gelangte über die Berliner Pfandleihanstalt gesammelt an die Degussa.
Der ganze Komplex, welche Gold- und Silbermengen die Degussa aus jüdischem Besitz verarbeitet hat, inwieweit die Herkunft der Edelmetalle nachvollziehbar war und damit auch die Frage, wieviel Wissen in der deutschen Industrie über die Verbrechen der Nazis vorhanden war, könnte jetzt anhand des Firmenarchivs in mühevoller Kleinarbeit erforscht werden. Ob für eine gezielte Aufarbeitung wirklich, wie von der Degussa erklärt, erst die neuen Erkenntnisse durch die Öffnung der Archive in Osteuropa als "unverzichtbare Anhaltspunkte" notwendig waren, können nur Historiker oder die Degussa selbst beurteilen. Das Zusammenbringen von Firmenkorrespondenz, Scheidebüchern und Lieferscheinen ist dabei mit Sicherheit ein schwieriges Geschäft. Kein Hinderungsgrund dürften allerdings die Einlassungen der langjährigen Archivleiterin Wolf gewesen sein, die damaligen "Begrifflichkeiten" seien heute so schwer nachzuvollziehen, was eine Aufarbeitung so sehr erschwert habe.
Die Degussa AG hat sich jetzt entschlossen, einen entsprechenden Forschungsauftrag zu vergeben. Doch mit dieser Entscheidung ringen die Verantwortlichen schon seit Monaten und noch immer ist nicht klar, wer in welcher Form den wissenschaftlichen Auftrag erhalten soll. Dieser zögernden Haltung hat das Unternehmen nunmehr die unangenehmen Fragen zu verdanken, warum man so lange damit gewartet hat, warum erst der Druck der Öffentlichkeit notwendig zu sein scheint.  Aus der Defensive heraus muß die Unternehmensleitung jetzt immer wieder betonen, daß  das Archiv jederzeit offenstehe und daß niemand etwas verschleiern wolle.
Man hätte es sich wohl leichter machen können, wie die Beispiele Daimler Benz, Volkswagen AG oder Deutsche Bank belegen, die auch sehr spät, aber dann immerhin doch ihre Geschichte haben erforschen lassen. Wirklich geschadet hat das keinem der Unternehmen. Doch trotz dieser positiven Beispiele herrscht in vielen Unternehmen noch immer die Angst vor einer negativen Presse und vor neuen Forderungen nach Wiedergutmachung. Ein Motiv, das auch die Degussa zu bewegen scheint, wie die Erklärung des Generalbevollmächtigten zeigt, der betont, daß er keinerlei Grundlage für "individuelle Ansprüche jüdischer Opfer oder Nachfahren" sehe. Dies muß vor dem Hintergrund gesehen werden, daß individuelle Entschädigungen selbst von Unternehmen wie Daimler Benz oder VW nicht geleistet wurden, bei denen ein personenbezogener Nachweis der Zwangsarbeit wahrscheinlich möglich gewesen wäre. Wohl aber hat Daimler Benz beispielgebend freiwillig einen Fonds eingerichtet, dessen Gelder durch jüdische Organisationen verteilt werden. Die Degussa kann anscheinend zumindest bei den Edelmetallieferungen aus den Konzentrationslagern darauf verweisen, daß für die Abwicklung in erster Linie SS und Reichsbank verantwortlich waren. Einer moralischen Diskussion wird sich das Unternehmen dennoch stellen müssen.
Die Aufarbeitung der Vergangenheit hat sich bislang für die deutschen Unternehmen als Gewinn erwiesen, wie die noch viel zu seltenen Beispiele gezeigt haben. Die Auswertung des Degussa-Archivs könnte vor allem in Verbindung mit den Unterlagen der ehemaligen Reichsbank zudem neue Erkenntnisse über die Goldgeschäfte der Nazis insgesamt bringen. Doch müssen leider die Reichsbankakten erst noch gefunden werden. Den entscheidenden Hinweis für deren Existenz hat wieder einmal Hersch Fischler gegeben. Aus einem von dem Bundesbankhistoriker Dieter Lindenlaub als authentisch angesehenen Dokument geht hervor, daß 91 Aktenpositionen über die Goldgeschäfte der Reichsbank im Jahr 1948 an die Bank Deutscher Länder übergeben worden sind, die zuvor von den US-Behörden per Mikrofilm archiviert wurden. Die Mikrofilme wurden laut Eizenstat-Bericht im April 1997 im US-Nationalarchiv entdeckt. Leider scheinen aber die 26 Ordner, die sich speziell mit dem "Melmer-Gold" befassen, nicht verfilmt worden zu sein - Bruno Melmer war der SS-Offizier, der die Goldlieferungen der SS an die Reichsbank organisierte. In Deutschland sind die Akten nicht auffindbar. Auch hier besteht damit noch hoher Aufklärungsbedarf.Â
02.06.1997 Habdeksblatt
HB NR. 102 VOM 02.06.1997 SEITE 06 SE (Seite):06 DE (Thema):Zeitgeschichte; CN (Land):Deutschland C4GER; CO (Unternehmen):Degussa AG;
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